Feldforschung

Nur ein paar Minuten Fußweg, an Kleingärten vorbei und über Bahnschienen hinweg, und ich bin im Feld. Ein Luxus, den die Großstadtflucht mit sich brachte und den ich zu frühen Morgenstunden am meisten zu schätzen weiß. Wenn die Sonne noch niedrig steht, kaum ein Mensch mit mir auf den Wegen des landwirtschaftlichen Verkehrs umherstromert. In einem unbeobachteten Moment der Hase am Feldrand sitzt. Um mit mir über die Kornfelder hinweg, über Erfurt, bis zu den Hügeln des Thüringer Waldes zu schauen. Die Feldlerchen sind in ihrem Tirili kaum zu bremsen, es summt und brummt über den Blüten, die ihre Farbtupfer großzügig über die Landschaft verteilen.
Und die ich dankbar einsammele, wie die Sonnenstrahlen, to keep it for a rainy day.




Boden

Was gibt's denn da zu sehen?
Wenn die Knie Augen hätten. Ein Fotospaziergang mit dem Blick in Bodennähe, durch Grashalme hindurch, über Wurzelwerk hinweg und mehr in der Hocke, als im Kopf. Statt beim Laufen in Gedanken nur abwesend vor mir auf den Weg zu starren, schaue ich ihn mir mal genauer an, um selbigen Gedanken etwas Sendepause zu gönnen. Perspektivwechsel und neuer Fokus.
Sehr erdende Geschichte.



Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit ist aufregend. Sie ist diese verwegene Freundin, mit der es so viel Spaß macht unterwegs zu sein, weil sie dir die Welt zeigt und dich selbst in deiner Nachbarschaft noch auf bunte Sachen bringt, die ohne sie spurlos an dir vorbeigegangen wären. Sie schert sich nicht darum, was andere sehen oder tun oder "was man eben macht", sie folgt einfach ihren eigenen Sinnen. Steckt dich an mit ihrem kindlichen Enthusiasmus, ihrer nimmermüden Neugier, ihren ständigen Fragen, ihren spitzfindigen Beobachtungen. Mit ihr hat das Leben mehr Farbe, mehr Tiefe, mehr Frische - mehr Leben eben.
Doch sie ist nicht diese rosarote Wohlfühlfreundin, sie kann auch unbequem werden, denn ihr fällt echt alles auf. Auch die traurigen, schwierigen, herzzerreißenden Dinge, die du lieber ignoriert hättest, die jetzt aber dein Mitgefühl und vollen Einsatz fordern. Vielleicht schreckst du zurück, willst lieber den Rückzug antreten und deiner aufmerksamen Freundin den Laufpass geben. Doch sie hält dich sanft am Arm, sieht dich freundlich an und bittet dich nicht wegzugehen. Denn du wirst hier gebraucht. Und wenn du ihr vertraust und bleibst, hilft sie dir. Schließlich ist sie deine Freundin. Sie lässt dich nicht im Regen stehen, statt dessen zeigt sie dir deine Stärke (ja, sie ist da), dein Mitgefühl, für dich selbst wie für andere (jap, das hast du auch) und all das Schöne + Gute (yes, auch das ist hier). Auf dass es dir Mut und Mumm gibt. Sie zeigt dir, dass all das Schicke und Schauderhafte nebeneinander stehen können, dass du alles gleichermaßen betrachten kannst, ohne dich auf eine Seite ziehen zu lassen. Sie zeigt dir, zu was du in der Lage bist, wenn du sie an deiner Seite hast.
Sie fragt:
Was siehst du, wenn du wirklich hinschaust?
Was nimmst du gerade wahr?
Was spürst du jetzt?
Freiraum

Zwischen Hauswänden, Industrieanlagen und Bahngleisen - eine Oase.
Eine riesige Fläche, auf der alles wachsen und blühen darf, wie es will, üppig und wild wuchernd, so dass es Asphaltflecken aus alten Tagen bunt überzieht. Kleine Trampelpfade ziehen sich zwischen hohem Gras hindurch, unter alten Kastanien her und an ausladenden Kugeldisteln vorbei. Blaue Inseln von Natternkopf werden summend von Bienen angeflogen, Schmetterlinge setzen sich auf die noch freien gelben und rosa Blüten nebenan, Heuschrecken rasseln ihren Soundtrack dazu. Im Baumschatten eine geordnete kleine Runde von Platikstühlen neben einem Grill, Fußspuren und Hundepfoten im getrockneten Matsch, eine etwas verlebte Sitzgelegenheit auf der Wiese - Zeichen dafür, dass sie gern gesellig genutzt wird. Aber dabei auch respektiert und gepflegt, wie mir scheint. Diese Brache. Sie ist besonders, man weiß, was man an ihr hat. Denn rar ist dieser Raum, wo alles einfach so sein darf, wie es ist.
Was ich nicht weiß: wie lange wir sie noch haben. Denn auch wenn sie noch so aussieht, als gehöre sie sich selbst, besitzt sie doch ein anderer, der den großen Wohnungsbau auf ihr plant. (Benötigter und bezahlbarer) Wohnraum ist wichtig, ohne Frage - wildes Leben in meinen Augen aber nicht weniger. Wie kann beides zusammen gehen? Ich weiß, es wird ein Drama, sie als betonierte Baustelle zu sehen.
Doch der Gedanke an später lenkt ab vom Schönen + Guten, was sie jetzt noch ist.
Das Grüne und Gewachsene, was sie jetzt bietet und großzügig an alle verschenkt, die sie hier aufsuchen. Damit sie Mut und Motivation sammeln, all die Wildheit zu schützen, die noch nicht verloren ist.
Außergewöhnlich
Lange wach bin ich noch nicht, als ich in die Küche komme und vom grünen Hinterhof her das laute Warnen der Amsel höre. Außergewöhnlich schnell und schrill, someone is really not amused. Ich gucke aus dem Fenster, über die Baumspitzen und Dachgiebel, in den blauen Himmel, durch den Schwalben pesen und Spatzen flattern, Tauben vor Krähen flüchten und weiße Wolken hindurchwandern. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie ein Greifvogel mit Beute auf dem flachen Blechvordach schräg unter unserem Küchenfenster landet. Ein Turmfalke, maximal fünfzehn Meter entfernt - Wahnsinn. Jetzt bin ich munter.
Geschützt zwischen den hohen Hauswänden hält der Falke einen Vogel zwischen seinen Krallen, sieht sich wachsam um, checkt ständig die Sicherheitslage. Das arme Ding zu seinen Füßen könnte eine junge Amsel sein, nicht mehr klein, aber vielleicht doch noch zu schwach, um schnell genug zu flüchten. Vielleicht blieb die schrille Warnung des Elternvogels vorhin ohne Erfolg - Abwehr nicht geglückt. Die arme Amsel, Opfer des zufriedenen Falken, der auch nur satt werden will, in Ruhe frühstücken und letztendlich überleben. Fasziniert, betroffen und leicht angewiedert durch das zerpflückte Fleisch, kann ich doch nicht wegsehen, wie der Turmfalke den toten Vogel zerreißt, frisst, pickt, ihn fest in seinen Krallen hält. Immer wieder schnell aufsieht, die Umgebung scannt, wachsam bleibt. Ich beobachte das megaschöne Tier, seinen hellen, schnellen Kopf mit hakenähnlichem Schnabel, dunklen Knopfaugen. Das warme, rotbraune Gefieder mit schwarzem Muster glänzt leicht in der Morgensonne. Pure Eleganz und Kraft, rohe Schönheit und natürliche Präsenz. Was man halt für viel verwendete Worte findet, in so einem Moment.
Und doch werde ich unruhig beim Zusehen, kann nicht einfach bei der Sache - nämlich der schlichten Beobachtung dieses außergewöhnlichen Moments - bleiben, in dem sich hier Naturschauspiele gleich vor meinem Küchenfenster auftun. Ein Greifvogel frisst hier direkt auf unserem Dach, gleich neben den Planzenzöglingen und gelüfteten adidas-Turnschuhen der Nachbarn! Wie oft kommt das vor? Warum werde ich bereits nach einigen Momenten nervös? Innere Fragen nach Kamera holen (nee, zu wenig Brennweite), Fernglas holen (ja, schon eher - aber jetzt? - wenn er dann wegfliegt - ach, beeil dich einfach), doch schon Kaffee machen und ihn weiter unbemerkt fressen lassen, denn ich hab's ja jetzt gesehen? Gleichzeitig bemerken, wie ich all das einfach weiter aufnehmen, genau beobachten und für mich festhalten will. Es nicht für gewöhnlich nehmen möchte. Und es mit meinem schlichten Gedanken ans Kaffeekochen doch so leicht ins Gleichgültige ziehen kann.
"Ich nahm es mir übel, mich an den Anblick der Tiere zu gewöhnen", schreibt Sylvain Tesson im "Schneeleopard".
Ich verstehe, was er meint. Mir geht es auch so. Sicherlich ist das hier nicht der Himalaya und die Tiere sind keine exotischen Yaks und Blauschafe. Dennoch - sind Schwalben, Spatzen und Falken etwa weniger nennenswert, nur weil ich sie hier täglich sehe?
Ich möchte mich an den Anblick der Tiere, der Natur, der Schönheit vor meinem Fenster nicht gewöhnen. Ich möchte es nicht als gegeben hinnehmen, dass ich hier leben darf, zwischen ihnen, mit ihnen. Ich möchte mich an ihnen freuen, Veränderungen bemerken, aufmerksam sein für ihre Lebendigkeit und ihr Leiden. Sie schützen in ihrer Fragilität, ihrer Besonderheit und Vielfalt. Neugierig und interessiert bleiben. Ich möchte alles, nur keine Gewöhnung. Sie stumpft ab und macht gleichgültig, lässt mich nichts spüren. Erdulden, ja, vielleicht - erleben, nicht wirklich. Gewöhnung kann mich aushalten lassen, was schwer erträglich ist, das sicherlich. Aber aus diesem Grund kann sie auch Veränderung verhindern. Indem ich mich einrichte in meinem Gewohnten. Es nicht weiter hinterfrage, egal, wie unbequem und schmerzhaft - oder eben genau deswegen. Was ich einfach gewohnheitsmäßig hinnehme, Tag für Tag, brauche ich nicht verändern, verteidigen, verstärken. Es verblasst in seiner Intensität, wird kaum spürbar, nur noch aushaltbar, ausblendbar, erträglich. Ein grandioses menschliches Phänomen, im Positiven wie Negativen, um letztlich sicherzustellen, dass wir möglichst ohne großen Energieaufwand überleben. Dem aber doch sicher mit etwas Aufmerksamkeit beizukommen ist, wenn es mir zusätzlich um's bewusste, energiegeladene Gestalten meiner mir geschenkten Tage gehen soll.
Diese Einträge sind meine Erinnerung daran, mich nicht zu gewöhnen.
Weder an diese wunderschöne Stadt, in die ich just gezogen bin, noch an die Natur, die hier direkt um mich herum wartet, und die ich doch so herbeigesehnt habe. Weder an das Lichtspiel der Morgensonne in unserer Wohnung oder die Gegenwart meines Partners, noch an die Möglichkeit mir Kaffee zu kochen oder meine Lieben zu sehen. Denn all dies ist flüchtig, nichts davon permanent. Auch an diesen Gedanken gewöhne ich mich zu schnell, bis er verblasst. Ich bekomme keine Garantien. Die Sonne verändert ihren Einfallswinkel, meine Lieben werden nicht ewig bei mir sein - unsere Lebenssituation ist angreifbarer, als wir gern glauben wollen. Dieser Fakt ist keine Neuigkeit, nun wirklich nicht. Aber wertvoll genug, um immer neu von mir betrachtet zu werden.
Der Turmfalke reißt plötzlich seinen Kopf hoch, wirkt erschreckt. Und mit einem starken Flügelschlag erhebt er sich mitsamt seiner Beute in den den Schutz der Bäume, zieht einen Kreis zwischen ihren Kronen und hebt ab über unser Dach. Ich sehe nur noch seinen schwarzen, fliegenden Schatten gegen den hellen Morgenhimmel über mir hinwegziehen.
Natürlich bleibt er nicht ewig.